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Ausnahmezustand ist Normalzustand

In einem kleinen Festakt mit geladenen Gästen wird zum 30. Jahrestag der Gründung der „Kleinen Hände“, am Freitag, 7. September, im Jülicher Kulturbahnhof gefeiert, ehe ab 19.30 Uhr alle Jülicher, die sich den Kleinen Händen verbunden fühlen, eingeladen sind. Der Eintritt ist frei, denn die WEB-Band sich selbst als Geschenk mitbringt. Pro Getränk fließen allerdings 50 Cent als Spende an die „Kleinen Hände“. Vereinsvorsitzende Dorothée Schenk gibt einen kleinen, persönlichen Einblick die Arbeit der "Kleinen Hände".

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Foto: Rudi Böhmer
Foto: Rudi Böhmer
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Es ist ein Gewimmel wie auf einem Basar im linken Flügel des Jülicher Kulturbahnhofs bei den „Kleinen Händen“. Zwischen wartenden Müttern, die Kleidung für ihre Kinder aussuchen möchten, Vätern, die nach Schuhen oder Schultaschen fragen, sieht sich eine Schwangere suchend um. „Womit kann ich Ihnen helfen?“ Die Frage kommt wie eine Erlösung. Diese Fälle kennen die „Kleinen Hände“ in Jülich seit 30 Jahren. Sie sind im besten Sinne Routine: Junge Frauen, die kurz vor der Entbindung stehen und weder Wiege noch Kinderwagen oder auch nur Wäsche oder Strampler für das Baby haben – von Geld ganz zu schweigen.

Für die Grundausstattung an Kleidung wird sofort gesorgt. Zurückgezogen im kleinen Büro nimmt sich der Vorstand der „Kleinen Hände“ Zeit, notiert den Namen und den errechneten Geburtstermin, was Kind und Mutter sonst noch fehlt sowie eine Kontaktmöglichkeit. Immer ist eine des Vorstands-Quartetts – neben Dorothée Schenk als Vorsitzende, Caterina Tronelli, Nicola Wenzl und Elisabeth Hartmann – ansprechbar, hört den Hilfesuchenden zu, während drei Frauen des 17- köpfigen Ehrenamtlerinnen-Teams der „Kleinen Hände“ an der Theke im Ausgaberaum sich auf Deutsch, Englisch, Französisch und mit Händen und Füßen verständigend Familien mit Kleidung versorgen. Im separaten Annahmeraum ist die 80-jährige Christel Dutz, die feste Institution und nimmt karton- und säckeweise Sachspenden entgegen. Und alles passiert unentwegt gleichzeitig. Dreimal zwei Stunden im Monat ist hier zu den Öffnungszeiten der Ausnahmezustand Normalzustand.

Modische Beratung gehört bei den Kleinen Hände auch dazu. Foto: Rudi Böhmer
Modische Beratung gehört bei den Kleinen Hände auch dazu. Foto: Rudi Böhmer
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Die „Kleinen Hände“ können sich auf ein gutes Netzwerk stützen etwa die Tafel, die persönlichen Kontakte zur Kreishebamme und zum Sozialamt. Aber erst wenn die Betroffene zustimmt – die Anonymität der Hilfesuchenden ist das oberste Gebot – geht der Griff zum Telefonhörer: „Frau Vogel, ja… wir haben hier (nennen wir sie) Maria sitzen. Hat sie Anspruch auf eine Erstausstattung?“ So wird das Räderwerk in Bewegung gebracht.

Genau für diese Notlagen hat sich der Verein auf Initiative der damaligen Bundespräsidentin Rita Süssmuth 1988 gegründet: Als Bekenntnis zum Leben trotz der Änderung des §218, des so genannten Abtreibungsparagraphen. Werdende Mütter sollten in schwierigen Lebenssituationen die Möglichkeit haben, „Ja“ zu ihrem Kind zu sagen. Seit dieser Zeit hat sich die Gesellschaft sehr verändert: Im Fokus stehen heute Kinder und deren Familien, die durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Trennung in finanzielle Notlagen geraten und mit dem Stigma der Bedürftigkeit behaftet sind. Was tun, wenn eine alleinerziehende Mutter weinend im Büro sitzt, weil sie wegen der unerwartet hohen Stromrechnung, die ihr nicht gestundet wird, und anstehenden Reparaturkosten für einen defekten Herd nicht in der Lage ist, den Kühlschrank für ihre drei Kinder zu füllen? Wenn für die Fahrradprüfung das Fahrrad fehlt, kein Geld da ist für das Schulabschlussfest oder so etwas Normales wie eine Feier zum 16. Geburtstag der Tochter? Die „Kleinen Hände“ helfen unbürokratisch, wenn kein Amt, wenn keine öffentliche Stelle mehr oder noch nicht helfen kann. Eine Mutter schrieb im Dankesbrief: „Sie sind Engel.“

"Kleine Hände" sind immer mehr als fünf Finger an jeder Hand. Foto: Arne Schenk
„Kleine Hände“ sind immer mehr als fünf Finger an jeder Hand. Foto: Arne Schenk

Ein Stück Normalität und das, was so spröde mit dem Begriff „Teilhabe“ umschrieben ist. Gleiches gilt für die Teilnahme an Klassenfahrten, die für „Bedürftige“ aus dem Beihilfe- und Teilhabepaket – also vom „Amt“ – bezahlt wird, nicht aber das Taschengeld, nicht die Wanderschuhe und auch nicht den Rucksack oder die Reisetasche. Nur wenige können sich vorstellen, wie viele Facetten der „Armut“ es in Deutschland gibt, deren Gesellschaft von Leistungsdenkenden und wachsenden Ansprüchen bestimmt wird. Im Laufe eines Jahres nutzen über 400 Familien die Unterstützung der „Kleinen Hände“.

Für viele dieser Menschen gehören die „Kleinen Hände“ fast zur Familie. Über 200 Stunden im Einsatz ist das Kleine-Hände-Team im Laufe eines Jahres. „Frau Schenk, Christian hat die Qualifikation geschafft!“ Gemeinsam freuen sich die Mutter, deren Sohn durch die Finanzierung von Nachhilfe auf der Gesamtschule den Sprung für die Abiturzulassung geschafft hat, und das Team. Denn nicht nur für das Allerlebensnotwendigste sorgen die „Kleinen Hände“, auch Lebensperspektiven zu schaffen, ist ein Ziel. Nach der Zahlung eines Überbrückungsgeldes an einen Schulabsolventen, weil das Amt in der Ausbildungsstadt noch nicht zuständig war, und das Amt, in dem seine Schule stand, nicht mehr zuständig war, schrieb er den „Kleinen Händen“:

Danke schön, dass ich nicht alleine in der Dunkelheit stehen musste.“

Im Jubiläumsjahr wurde darüber hinaus eigens ein Projekt namens „Zungenschlag“ in Kooperation mit der VHS installiert: Zweimal im Monat erhalten Mütter, die der Deutschen Sprache nicht oder rudimentär mächtig sind, Unterricht ausschließlich im Sprechen.

Anrufe erreichen das Vorstandstrio an sieben Tagen in der Woche, und immer sind es Notfälle. „Ich werde nicht müde zu sagen, dass der Verein Kleine Hände besteht, weil es ein gesellschaftlich-politisches Versagen gibt, das es nicht allen Kindern und Jugendlichen ermöglicht, Anteil am öffentlichen Leben zu nehmen. Und trotzdem: Ich bin froh und stolz auf das, was die Kleinen Hände leisten. Es gibt kaum einen Tag, an dem nicht sichtbar wird, wie wichtig es ist, dass es uns gibt“, sagt die Vorsitzende der Kleinen Hände, Dorothée Schenk.

Der Umgang mit den Menschen unterschiedlicher Kulturen und sozialen Schichten ist durchaus auch eine Herausforderung. Es gibt freundliche und unfreundliche in jedem Alter, jeder Haut- und Haarfarbe. Not macht zuweilen auch ruppig und ungeduldig und auch nicht unbedingt dankbar. Eine Haltung, die bei den ehrenamtlichen Frauen, die ihre Freizeit einsetzen, nicht immer auf Verständnis stößt. Aber auch „Die Lästigen geduldig ertragen“ gilt als ein Werk der Barmherzigkeit – und es ist nicht immer leicht, die Balance zwischen allen „Werken“ zu bewahren.

In einem kleinen Festakt mit geladenen Gästen wird zum 30. Jahrestag der Gründung der „Kleinen Hände“, am Freitag, 7. September, im Jülicher Kulturbahnhof gefeiert, ehe ab 19.30 Uhr alle Jülicher, die sich den Kleinen Händen verbunden fühlen, eingeladen sind. Der Eintritt ist frei, denn die WEB-Band sich selbst als Geschenk mitbringt. Pro Getränk fließen allerdings 50 Cent als Spende an die „Kleinen Hände“.


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